Die Dreigliederung, eine ordnende Grundlage für die Yogapraxis und für das Leben

Im Yoga wird oft von Körper, Geist und Seele gesprochen und häufig hört man die Aussage, dass „Yoga Körper, Geist und Seele in Einklang bringen kann“. Schnell sind solche Aussagen gemacht, was aber bedeutet sie im Kern der Sache und wie sind diese Begriffe wirklich zu verstehen?

 

In der Literatur von Rudolf Steiner und von Heinz Grill begegnet man einer ähnlich klingenden Gliederung, die aber nicht wie ein Schlagwort bleibt, sondern in allen Details aus immer wieder neuen Blickrichtungen beleuchtet wird und eine erkenntnismäßige wie auch praktische Annäherung an die Begriffe ermöglicht. Dieser kurze Artikel soll einen kleinen Überblick darüber geben.

 

Die drei Seelenkräfte

 

Ausgegangen werden kann vorerst einmal von den sogenannten drei Seelenkräften oder Seeleneigenschaften, die sich unterscheiden lassen. Diese sind das Denken, das Fühlen und der Wille. Diese Dreigliederung des Seelenlebens wurde erstmals von Johannes Nikolaus Tetens (1736-1807) klar beschrieben. 

 

Rudolf Steiner ging ebenfalls von dieser Gliederung aus und suchte nach dem Zusammenhang von Seelischem zur körperlichen Struktur. Er fand heraus, dass sich Denken, Fühlen und Wille auf eine lokalisierbare körperliche Grundlage stützen. So beschreibt er als körperliche Basis für das Denken das Gehirn, das davon ausgehende Nervensystem und die Sinnesorgane. Dies entspricht dem Kopfbereich des Menschen. Das Fühlen erkennt er in der Brustregion und damit in den Organen Herz und Lunge. Für den Willen nennt er als körperliche Struktur das Stoffwechselsystem im Bauchraum. Somit spricht er von drei Gliedern: 

  • dem Nerven-Sinnes-System (Kopf)
  • dem rhythmischen System (Brust) und 
  • dem Stoffwechsel-Gliedmaßen-System (Bauch, Beine)

Er spricht davon, dass sich die obere und die untere Region wie polar gegenüberstehen. Der Brustraum hat dabei eine ständig zwischen Nerven-Sinnes-System und Stoffwechsel-Gliedmaßen-System ausgleichende Mittelstellung.

 

Rudolf Steiner betont, dass diese Gliederung nicht als fixiert anwendbares Schema gesehen werden solle. Die drei Bereiche seien unterschiedlich und eigenständig und dennoch ineinander verwoben.

 

Die Mittelstellung der Seele

 

Bei den Ausführungen von Heinz Grill findet man die Dreigliederung in ähnlicher Weise in verschiedenen Zusammenhängen dargestellt. Denken, Fühlen, Wille erscheinen dabei wieder als die drei Kräfte der Seele, wobei die Seele eine Mittelstellung zwischen dem Körper bzw. den materiellen Umständen und dem Geist als transzendente Wirklichkeit einnimmt.

 

Geist

Seele  -  Denken, Fühlen, Wille

Körper

 

Auf der körperlichen Ebene unterscheidet Heinz Grill ähnlich wie Rudolf Steiner drei Glieder: den oberen Nerven-Sinnespol im Kopfbereich, die sogenannte Herzmitte im Brustraum und den unteren Stoffwechselpol in der Bauchregion. Das Denken korrespondiert wiederum mit dem oberen Nerven-Sinnespol, das Fühlen mit der mittleren Herzregion, der Wille mit dem sogenannten stoffwechselaktiven, unteren Pol.

 

Auch kommt dabei eine Art zusätzliche Gliederung dazu, nämlich dass das Denken mehr zum Geist und der Wille mehr zum Körper hinorientiert sind. Das Denken und die Vorstellungsfähigkeit bedient sich des Gedankens als rein geistige Substanz und der Wille ergreift die körperlichen und materiellen Bedingungen. Das Fühlen oder Empfinden bildet die Mitte und vermittelt eine Nähe sowohl zum abstrakten Gedanken als auch zur greifbaren Materie. Dies ist aber nach meinem bisherigen Verständnis auf keinen Fall so zu sehen, dass der Wille eine „materiellere“ und das Denken eine „geistigere“ Seelenkraft ist.

 

Geist 

                   Denken 

Seele   —  Fühlen

                   Wille

Körper

 

 

"Die Materie ist durch die Sinne erfahrbar. Sie besteht aus sichtbaren Formen, Erscheinungen, Farben und analysierbaren Stoffen. Die Seele entzieht sich der Sichtbarkeit, dennoch ist sie in ihrem Ausdruck durch Empfindungen erfahrbar. Der Geist jedoch ist nicht durch Empfindungen erlebbar, sondern er bildet das Mysterium hinter allen seelischen Empfindungen und sichtbaren Phänomenen."

 

"Die Seele besteht aus drei Grundkräften und diese sind das Denken, das Fühlen und das Wollen. ...

Jeder einzelne Mensch besitzt die Möglichkeit, sich selbst im Denken zu geordneten und logischen Gedankenabläufen zu erziehen. Je geordneter ein Gedanke in einem Zusammenhang zu einem nächsten Gedanken, einem Thema oder einer Sache, oder in Beziehung zu den Mitmenschen, zur Kultur und zum sozialen Leben gedacht wird, desto mehr fördert er in der Folge ein gesundes Gefühlsleben.

Die Gefühle des Menschen können im weiteren Verlauf zu tieferen Empfindungen gefördert werden. Das Gegenteil zu tieferen Empfindungen bilden oberflächliche Emotionen, die meist über die Menschen wie eine Sintflut fallen und oftmals in übersteigerten Reaktionsweisen wie enthusiastischen Ausschweifungen oder tragischen Entgleisungen ihre Verlauf nehmen. Die Reife eines Menschen aber stellt niemals ein oberflächliches Gemütsleben dar, sondern vielmehr die Tiefe seiner Gedanken und Empfindungen, die gewissermaßen seine Seele beschreiben.

Die menschliche Entwicklung benötigt neben der Entfaltung von geordneten Denkvorstellungen und der Entwicklung von tieferen Empfindungen eine stabile Grundlage im Willen. Die dritte Kraft der Seele, das Wollen, schenkt dem einzelnen Menschen seine tiefste Prägung in der Persönlichkeitsstruktur. Weniger das äußere triebhafte Verlangen, das sich mehr den Ausschweifungen der Welt widmet, sondern mehr die willentliche Disziplin, Ideale nach bestem Gewissen zu erstreben und im geduldigen, besonnenen Einsatz sinnvolle Aufgaben bis zu ihrem Ende zu führen, kann den Willen des Menschen stärken und seine Persönlichkeitsstruktur festigen."

 

(aus: Übungen für die Seele, Heinz Grill)

 

 

Bezug zu Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers

 

Die Dreigliederung kann man gut im menschlichen Körper betrachten.

Beispielsweise bei der Wirbelsäule.

 

Die Wirbelsäule besteht von unten nach oben gesehen aus dem Steißbein, dem Kreuzbein, der Lendenwirbelsäule, der Brustwirbelsäule und der Halswirbelsäule. Beim Kreuzbein sind einzelne Wirbel und Verbindungen zur Hüfte miteinander verschmolzen, sodass dies ein sehr kompakter, fester Abschnitt ist. Die restliche Wirbelsäule besteht aus 24 einzelnen, aufeinander aufgebauten Wirbeln, und zwar im Lendenbereich aus 5 Wirbeln, im Brustabschnitt aus 12 Wirbeln, in der Halswirbelsäule aus 7 Wirbeln. 

 

Der Bau der Wirbelsäule zeigt sehr deutlich eine Gliederung in 3 Abschnitte, denn die Wirbel unterscheiden sich in ihrer Form und Kompaktheit. Die 5 Lendenwirbel haben den größten und kräftigsten Wirbelkörper und sind auch durch den musculus iliopsoas kräftig gestützt und mit dem Hüftbereich verbunden. Hier sind auch die Stoffwechselorgane wie Magen, Bauchspeicheldrüse, Gallenblase, Leber, Dickdarm und Dünndarm, welche eine intensive Arbeit der Stoffumsetzung leisten. 

 

Die 12 Brustwirbel sind etwas feiner strukturiert und besitzen auch anders geformte Dornfortsätze. An den Brustwirbeln setzen die Rippen an, die sich bogenförmig nach vorne formen und sich im Brustbein treffen. So bildet sich ein geschützter und doch offener Raum, in dem sich die wichtigen und großen Organe Herz und Lunge befinden.

 

Die 7 Halswirbel sind loser aufeinander gereiht und nicht mehr von so fester Muskulatur umgeben wie die Lendenwirbel. Vor allem der 1. und 2. Halswirbel, Atlas und Axis, sind locker, wie ringförmig ineinander gelegt. Sie tragen den Kopf, der mit dem Schädelknochen sehr kompakt und geschlossen das Gehirn als Zentrum des Nervensystems umfasst.

 

So sieht man Kompaktheit, Festigkeit in den unteren Abschnitten, nach oben hin zunehmend feinere und gelöstere Strukturen. 

 

 

Betrachtet man wiederholt den Aufbau des Körpers, so wird mit der Zeit diese Gliederung immer mehr  logisch nachvollziehbar und erkenntlich.

 

Beispielsweise fällt auf, dass die Bauch/Stoffwechselregion weich ist und einzige knöcherne Struktur die Wirbelsäule ist.

 

Der Kopf oben hat ganz gegenteilig eine harte, komplett geschlossene Schädeldecke, die das Gehirn umschließt.

 

In der Mitte ist der Brustkorb, der ebenfalls einen Schutzraum um die Organe bildet, aber durch die Rippenbögen gleichzeitig auch offen bleibt.

 

 

Der Brustkorb wird "rhythmische Mitte" oder "rhythmisches System" genannt und als eine Region beschrieben, die vor allem mit dem Herzrhythmus zwischen den Polaritäten von oben und unten ständig ausgleichend tätig ist.

 

Bei genauerer Betrachtung entwickelt sich langsam das Empfinden, dass der Aufbau der Rippenbögen wie rhythmisch gestaltet ist. Rippe für Rippe, Bogen für Bogen bewegt sich von den Brustwirbeln ausgehend nach vorne, sie sammeln sich im Brustbein und bilden somit einen geschlossenen und doch offenen Innenraum. Herz und Lunge sind geschützt und doch nicht so abgeschlossen wie das Gehirn im Schädel.

 

Bezug zur Yogapraxis

 

Bei den asana, den Yogaübungen, spielt die Wirbelsäue eine zentrale Rolle, denn aus ihr formt man die verschiedenen Bewegungen. Die Beobachtung der Anatomie in Verbindungen mit dem Wissen um die Dreigliederung gibt eine logische Linie für den Aufbau von Anspannung und Entspannung in den Übungen. Dynamik, Spannkraft, aktives Wachsen und Ausdehnen der Wirbelsäule wird im unteren Abschnitt entwickelt, während im oberen Bereich mit Schultern, Armen, Nacken und Kopf die Gelöstheit bleibt. Der obere Bereich bleibt leicht, nie fixiert und frei für die Beobachtung und den Überblick über die Bewegungen. Im Stoffwechsel-Lendenbereich darf lebendig gespannt und dynamisch Kraft eingesetzt werden. Der Brustbereich bleibt wie eine ausgleichende Mitte. Die von der unteren Wirbelsäule aufgebaute Dynamik hebt und öffnet den Brustkorb und die Brustwirbel können ebenfalls durchgespannt werden, aber mit empfindsamem Einsatz ohne Fixierung der Schultern.

 

Kopf    -   Überblick, Sinneswahrnehmung, Beobachtung

Brust   -   Gleichgewicht, sanfte Öffnung und Mobilisierung

Bauch -   Dynamik, Spannkraft, Wachsen und Ausdehnung der Wirbelsäule 

 

So hat die Dreigliederung für die asana-Praxis eine sehr wichtige und ordnende Bedeutung.

 

Bewegungen, bei denen im Kopfbereich die Übersicht und Wahrnehmung bewahrt wird und im Stoffwechselbereich zentriert und aktiv gespannt wird, befreien damit auch das Denken und die Willenskräfte etwas aus fixierten Strukturen. Denken und Wille werden differenziert und gegliedert. Das Empfinden kann sich ebenfalls freier entfalten.

 

Stoffwechsel - Spannkraft - Wille

 

zB Kopf-Knie-Stellung, Anfangsphase

 

Brust - Ausgleich - Empfinden

 

Zehenspitzenstellung

 

Kopf - Übersicht - Denken

 

Drehsitz


 

Gliederung und Einheit

 

"Die Gliederung in eine körperliche Ebene mit körperlichen Wirkungen, eine seelische Ebene mit seelischen Wirkungen und eine geistige Ebene mit geistigen Auswirkungen führt das Denken ebenfalls nicht in eine Vermischung mit den Gefühlen und den Wünschen des Willens, sondern sie führt das Denken leichter zum Gedanken und das Empfinden leichter zum seelischen Eindruck, und sie führt weiterhin den Wunsch oder die Willenskraft in geordneter Weise zum Themenbezug.

 

Die Gliederung der Ebenen ist deshalb nicht eine Form der Entzweiung und Zerstückelung einer Ganzheit, sondern sie ist vielmehr eine Möglichkeit zur Auflösung vorhandener Vermischungen und Wirrnisse im Bewusstsein. Und so führt sie durch ihre Möglichkeit der Ordnung zu einer Erfahrung der größeren Einheit und Übereinstimmung der einzelnen Ebenen.

 

Die Ebenen von Körper, Seele und Geist bilden für sich, wenn man sie in einer universalen Weise betrachtet, eine einzige geschlossene Harmonie und dennoch bilden sie, in sich selbst herausgearbeitet, eine jeweilige Erscheinungsform der Einzigartigkeit und geben somit in ihrer Zugehörigkeit zum Weltenganzen eine spezifische, signifizierende Bedeutung."   

 

(Übungen für die Seele, Heinz Grill)