1. Allgemeines
Das Wort Differenz ist im deutschen Sprachgebrauch gut integriert. Es stammt aus dem Lateinischen „differentia“ und bedeutet Unterschied, Verschiedenheit. Die differenzierte Wahrnehmung ist eine mögliche Fähigkeit des Menschen, die ihn umgebende Außenwelt wie auch seine eigene Innenwelt in ihren feineren, vielschichtigen Unterschieden zu erkennen.

Die Augen blicken beispielsweise auf eine Blume und der Mensch kann diese Blume in ihrer Gesamtheit als solche erkennen. Er kann feststellen: Das ist eine Sonnenblume. Je größer die Fähigkeit ist, feinere Details, die verschiedenen Teile der Sonnenblume zu sehen, desto differenzierter nimmt er sie wahr. Er kann zB Stängel, Blätter und Blüte unterscheiden. An diesen drei Bereichen kann er weitere Unterschiede wahrnehmen - er sieht, wie feine Härchen den Stängel umkleiden, dass die Blätter sehr breit und herzförmig sind, wie sie sich um den Stängel herum anordnen und welcher Art deren Grün ist, und dass die Blüte einen großen Korb mit gelben Blütenblättern besitzt.
Nun kann er die Blüte genauer ansehen und feststellen, dass der sogenannte Blütenkorb aus unzähligen kleinen Einzelblüten besteht und bei noch aufmerksamerer Betrachtung, dass diese in sehr geometrischer Form angeordnet sind und sich radial von außen nach innen öffnen.

Mathematiker haben sich schon vielfach mit der Anordnung der Blüten (Sonnenblumenkerne) auseinandergesetzt und festgestellt, dass sie dem Goldenen Schnitt bzw. den so genannten Fibonacci-Zahlen entsprechen.
Die differenzierte Wahrnehmung benötigt Ausdauer im Hinschauen, Interesse und auch - und das ist bemerkenswert - einen Sinn für Begriffe und konkrete Gedanken.
Beispiel: Der Begriff oder die Tatsache, dass es eine Geometrie oder harmonische Ordnung gibt, muss sich bereits beim Betrachter im Bewusstsein angelegt haben. Er sieht bei der Sonnenblume die kleinen Korbblüten in ihrer Anordnung und nimmt nicht nur die Ansammlung der kleinen Blüten wahr, sondern auch die Harmonie der Anordnung, weil er einen begrifflichen oder gedanklichen Sinn dafür hat.

Sieht man das Gesicht eines Menschen an, so kann man seine Augen, Nase und Mund sehen, aber darüber hinaus auch differenzierter die Formen und Proportionen erkennen, wenn man auf diese konkret aufmerksam wird und sich Gedanken dazu bildet. Es ist auch möglich, im Gesichtsausdruck eines Menschen die genau genommen unsichtbare seelische Verfassung wahrzunehmen - aber auch nur dann, wenn entsprechende Gedanken und Fragen dazu vorhanden sind.
Daraus lässt sich erkennen, dass die Wahrnehmung an die Fähigkeit geknüpft ist, konkrete und gezielte Gedanken zu bilden. Frage ich mich nicht nach der seelischen Verfassung des Menschen oder nach den feineren Ordnungsprinzipien einer Blume und bilde mir dazu keine klaren Gedanken und Anschauungen, so kann ich diese auch nicht bewusst wahrnehmen. Das Phänomen kann nicht bis ins Bewusstsein gelangen.
Mit der differenzierten Wahrnehmung bleibt man nicht bei einem ersten Gesamteindruck oder Pauschalurteil stehen, sondern vermag die Einzelheiten einer Sache zu erkennen und voneinander zu unterscheiden. Es ist dabei keinesfalls gemeint, dass man ganz kleinlich, pingelig auf jedes Detail achtet. Differenzierte Wahrnehmung führt mehr in eine Weite und einen weiten Blick, während das kleinliche Fixieren an Details Gefühle der Enge erzeugt. (*Unterscheidung Hypersensibilität, Autismus)
2. In der Yogaübung
Ähnlich wird in der Yogaübung nicht als Ziel angestrebt, jeden Körperbereich und auch das Innenleben übersensibel wahrzunehmen. Und es werden auch nicht einfach allgemeine detaillierte Wahrnehmungen vorgenommen, sondern es werden gezielte, bewusst ausgewählte, sinnvolle Wahrnehmungen aufgebaut, damit eine bestimmte Bewegung in den Körper geführt bzw. mit dem Körper ausgedrückt werden kann. Aus der differenzierten Wahrnehmung wird die Form mit dem Körper ausgestaltet.

Der Fisch, matsyasana, zählt zu den Übungen, die besonders charakteristisch für die differenzierte Wahrnehmung ist. Sehr sorgfältig und wachsam abgestimmt unterscheidet der Übende die entspannten Bereiche - oben Kopf, Nacken, Gesicht, Schulterregion und unten Hüften, Beine in schmaler ruhiger Form - zu der aktiven Region in der Brustwirbelsäule zwischen den Schulterblättern, wo sehr zentriert und exakt durchgestreckt wird.
Die Aktivität der Differenzierung in der Spannungsverteilung führt zu einer ruhigen Sensibilisierung und einer Anhebung des Bewusstseins aus schweren, melancholischen oder depressiven Stimmungen.
In einer ersten Phase geht man ganz unkompliziert in die Stellung und nimmt sie noch nicht zu streng. Dann erfolgt vor dem weiteren Ausformen der Bewegung eine Ruhephase mit wacher Bewusstheit. Man stellt einen Überblick über die gesamte Position und die Spannungsverhältnisse her. Als nächstes richtet man die Aufmerksamkeit zur gewählten Region und bewahrt die Ruhe mit klarer Vorstellung über die geplante Bewegung. Nach einiger Zeit setzt man ruhig und gezielt an und erzeugt die Bewegung und die Körperform.
Das Bewusstsein kommt so in eine neue Zuordnung zum Körper. War es zuvor mehr mit dem Körper und seinen Stimmungen und Emotionen verstrickt und mehr wie untergetaucht, nimmt es nun eine freiere Position ein, die dem Körper und den Gefühlen beobachtender gegenübersteht. Man kann es so beschreiben, dass sich das Bewusstsein wie anhebt und aus der angehobenen Position ruhiger, klarer, gezielter und gestaltender auf den Körper einwirken kann. Die Muskulatur kann auch insgesamt gelöster bleiben und manche muskuläre Widerstände weichen durch die freiere Bewusstheit etwas mehr zurück. Es wird damit kein Zwang ausgeübt, der für den Körper belastend wäre, sondern es ist eine sanfte, belebende gestaltende Umgangsart mit dem Körper.

Skizzenhaft dargestellt, wie das Bewusstsein unruhig
im Körper umherschweift, ohne Überblick.

Das Bewusstsein ist freier, überschauender und objektiver
zum Körper ausgerichtet.
3. Wert und Heilwirkungen
Ich versuche, mich Antworten auf die Frage nach den Auswirkungen der differenzierten Wahrnehmung aus meinen Beobachtungen anzunähern. Vielleicht regt es auch den Leser an, sich selbst dazu Vorstellungen zu bilden und zu forschen, wie es sein könnte:
Die differenzierte Wahrnehmung ist eine Aktivität des Bewusstseins bzw. des Denkens und nicht des Körpers, deshalb möchte ich unterscheiden zwischen Wirkungen auf das Bewusstsein und Wirkungen auf den Körper.
- Wirkungen auf das Bewusstsein:
Stellt man sich das Bewusstsein als einen unsichtbaren, aber real vorhandenen Teil des Menschen vor, über welchen er in Verbindung mit seinen Sinnen die Welt und ihre Erscheinungen erfahren und erleben kann, so kommt man schnell zu der Erkenntnis, dass es Eindrücke gibt, die sehr stark ins Bewusstsein treten, und solche, die mehr diffus, vage und flüchtig wie vorbeistreifen. Je aufmerksamer und differenzierter ich etwas beobachte - und mich dazu auch entscheide und dabei bleibe - desto bewusster tritt das Beobachtete in das persönliche und bewusste Leben herein. Das Bewusstsein kann nicht flüchtig, verschwommen bleiben, sondern es konzentriert sich und differenziert sich.
Durch die Aktivität des differenzierten Wahrnehmens wird das Bewusstsein selbst differenzierter, strukturierter, konzentrierter, stabiler und bewegter zugleich. Diese Unterschiede kann man bei sich selbst recht leicht beobachten lernen.
Und wie oben erwähnt bei den Übungsbeispielen wird das Bewusstsein freier vom Körper, oder besser ausgedrückt: Es kommt in eine gesündere und bessere Zuordnung zum Körper. Es ist weder zu tief im Körper eingeschnürt noch zu weit vom Körper entfernt. Es kann aus der idealen Proportion zum Körper frei gestaltend auf die körperlichen und allgemeinen Lebens-Umstände einwirken.
- Wirkungen auf den Körper:
Stellt man sich nun das Bewusstsein im Verhältnis zum Körper als das primärere Wesensglied vor, so kommt man unweigerlich darauf, dass es nicht einerlei für die körperliche Harmonie und damit Gesundheit der Organsysteme sein kann, in welcher Weise das Bewusstsein konstituiert ist.
Das feinste Organsystem ist beispielsweise das Nervensystem.
Ein differenziertes Bewusstsein müsste zu einem einerseits sensibleren und andererseits stärkeren Nervensystem führen. Durch die vielen, klaren Eindrücke bilden sich mehr Synapsen (*siehe entsprechende Fachliteratur). Sensibilität und Feinsinnigkeit sowie Ruhe und Kraft im Nervensystem entwickeln sich. Ohne differenziertes Wahrnehmen und Denken kann sich das Nervensystem auch nicht vielschichtig ausbilden und bleibt schwächer, weniger aufnahmefähig und instabiler.
Die Organe arbeiten nach Dr. Udo Renzenbrink über sehr feine Wahrnehmungsprozesse zusammen. Sie arbeiten nicht isoliert jedes für sich, sondern nehmen die umliegenden Vorgänge auf feinste Weise wahr, damit der Organismus in seinem sensiblen Gleichgewicht bleiben kann. Ausgehend von dieser Vorstellung müsste es so sein, dass differenzierte Bewusstseinsaktivitäten, die zu feinen Wahrnehmungen führen, stärkend auf die Organkräfte im Sinne ihrer gegenseitigen Wahrnehmungsfähigkeit und damit ihres Gleichgewichts miteinander wirken müsste.
Strukturierungen sind ein wichtiges Zeichen für die körperliche Gesundheit. Die Haut, Nägel, Haare, Knochen, die Wirbelsäule, Bänder, Gewebe, Muskeln benötigen Struktur, ohne zu stark zu verhärten. Wenn der Bewegungsapparat zu lasch, weich, unstrukturiert wird, kann er dem Menschen für seine Arbeiten nicht mehr entsprechend zur Verfügung stehen. Bewegungsaktivitäten selbst wirken natürlich stärkend, aber auch differenzierte Bewusstseinsaktivitäten erscheinen mir wesentlich. Ein Mensch, der auf gesunde Weise sorgfältig beobachtet und sorgfältig denkt, wird damit strukturierend auf seine Muskeln, Gewebe, Bänder und Haut wirken.
Das beste Beispiel ist die Depression, in welcher der Mensch nicht die Kraft hat, seine Sinne wach und interessiert nach außen zu richten. Ein depressiver Mensch wirkt optisch ungeformt, zu weich, verschwommen, aufgequollen. Er sieht nicht klar gegliedert aus, insbesondere im Gesicht ist dies sehr auffällig.
Besonders wichtig ist die Bedeutung für das Immunsystem. In der letzten Yogalehrer-Fortbildung in Naone, Italien, wurde dieser Zusammenhang von Heinz Grill, der den Kurs inhaltlich leitete, in Zusammenarbeit mit den Teilnehmern und teilnehmenden Ärzten erforscht und erläutert. Sehr kurz zusammengefasst hat sich gezeigt , dass die autonom/unbewusst ablaufenden weisheitsvollen Vorgänge des Immunsystems und des gesamten Organismus freier, ungestörter und geordneter arbeiten können, wenn das Bewusstsein durch differenzierte Denk- und Beobachtungsvorgänge angehoben, aus Fixierungen an den Körper gelöst wird und damit in die gesunde harmonische Zuordnung zum Körper gelangt (siehe Beispiel Fisch).
- Wert für das soziale Leben:
Die Fähigkeit zu differenzieren führt zu besseren Beziehungen, denn es kann besser mit Gegensätzlichkeiten umgegangen und es kann eine erweiterte, neue Sicht zu einem Thema oder Objekt gewonnen werden. Ein Bespiel: Zwei Menschen haben eine unterschiedliche Sicht und Meinung zu einer wichtigen Sache, die beide bewegt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie damit umgegangen werden kann:
- der eine behauptet sich mit seiner Meinung und der andere gibt nach und ordnet sich unter
- man streitet, wer recht hat und es verhärten sich die beiden Pole
- jeder versucht bestmöglich, die Sache aus dem Blickwinkel des anderen zu sehen, ohne seine Sicht aufzugeben, mit dem Bemühen, die Sache selbst besser zu verstehen
Bei 1. und 2. sind es ungünstige Ergebnisse ohne Fortschritt. Bei 1. entsteht ein Verhältnis von drüber und drunter ohne differenzierten Blick auf die Sache. Bei 2. entsteht Polarität, aus der Aggression und Verteidigung folgen können. Auch hier fehlt der Mut zur differenzierten Betrachtung. Bei 3. muss differenziert werden zwischen dem eigenen und dem anderen Standpunkt sowie der Sache selbst, die in ihren vielen Facetten, die vielleicht beide Parteien nur in Teilen erkennen können. Differenzierung führt zu Erkenntnis und in der gemeinsamen konstruktiven Auseinandersetzung zu weiteren Entwicklungen und menschlicher Verbindung.
Diesen Zusammenhang noch weiter gedacht, zB mit Blick auf die Welt und ihre verschiedenen Länder und Völker, führt zu der Einsicht, dass differenzierte Wahrnehmungen zu Versöhnung und mehr Frieden beitragen.
- Wert für die künstlerischen Fähigkeiten des Menschen:
Ein Künstler kann nicht anders als die Dinge differenziert zu betrachten. Er sieht ganz anders auf die Erscheinungen hin, den er will genau sehen, wie sich beispielsweise die Farbenspiele bei Licht und Schatten verhalten, sonst kann er sie auch nicht malen.
Der künstlerische Blick ist immer etwas freier, denn er wird beispielsweise ein Gesicht viel genauer wahrnehmen: Wie ist der Schwung der Augenbrauen? Sind die Augen leuchtend oder verschattet? Wie sind die Proportionen und Größenverhältnisse?
Jeder Mensch kann diesen künstlerischen Blick entwickeln und er wird bemerken, dass das Leben plötzlich um einiges reicher wird.
Es gibt sicher noch viele weitere Wirkungen in vielen Lebensbereichen.
Vielleicht kann dieser Text anregen, diese Möglichkeit der differenzierten Wahrnehmung aktiv im eigenen Leben immer weiter zu entwickeln.